Beijing Kunstbezirk 798: Von der Elektrofabrik zum Kulturareal
Früher war die Kunst der alten Elektrofabrik die Fassade, heute hat sie sich ins Innenleben verlagert.
Avantgardistische, gar leicht regime-kritische Kunst? Würde man in China wohl eher der seit jeher in Richtung Westen offenen und als leicht verrucht geltenden Finanzmetropole Shanghai zutrauen. Nicht jedoch der von Politpräsenz dominierten Hauptstadt Beijing. Als überraschender Insider-Tipp entpuppt sich so das der Beijing Kunstbezirk 798, eine stillgelegte Elektronikfabrik aus den 1950-er Jahren, die von den sozialistischen Freunden aus der DDR im vom Bauhaus inspirierten Architekturstil errichtet wurde.
Nachdem der riesige Gebäudekomplex von der Industrie aufgegeben wurde, zogen 1995 die ersten Künstler hier ein und schätzten insbesondere das reichlich vorhandene, natürliche Licht, das sie den Architekten verdanken, die bei der Errichtung große Innenräume verlangt hatten, um eine maximale Ausnutzung natürlichen Lichtes am Arbeitsplatz zu ermöglichen.
Doch wie hoch darf die Erwartung sein, hier „echte“, unverfälschte Kunst vorzufinden, die sich frei von Zwängen entfalten kann? Chinesische Künstler zu diesem Thema zu befragen, dürfte sich als heikel bis nahezu unmöglich erweisen. Und so bin ich froh, dass Megan Connolly Zeit gefunden hat, mich durch die alten Fabrikhallen zu begleiten. Die gebürtige US-Amerikanerin ist im Rahmen ihres Studiums in China hängengeblieben und vermittelt heute Besuchern wie Kunstsammlern ein Gespür für die Trends der zeitgenössischen chinesischen Kunst.
Während wir durch die aktuelle Ausstellung im Ullens Center for Contemporary Art (UCCA) schlendern, einer Kunststiftung, die vom belgischen Ehepaar Guy und Miriam Ullens gegründet wurde, erklärt die quirlige Kunstkennerin den „Zulassungsprozess“ der Exponate: „Jedes Stück, das hier ausgestellt wird, durchläuft einen zweiwöchigen Revisionsprozess. Am Ende wird die Ausstellungsgenehmigung erteilt oder eben abgelehnt. Ein wenig subtile Kritik am Regime ist ok, aber wenn sich der Künstler über China lustig macht, das geht gar nicht. Schau mal hier, die Skulptur, für den normalen Betrachter sieht das vielleicht nur wie ein edles Objekt oder bestenfalls leicht skurriler Felsbrocken aus. Tatsächlich spielt Zhan Wang mit dem neuen Image von China – nach außen hin viel Glitz und Glanz, innen ist die Skulptur jedoch hohl und nicht für die Ewigkeit gebaut…“
Auf dem Weg zur nächsten Galerie im Beijing Kunstbezirk 798, dem Art Café, der ersten kommerziellen Galerie im 798, zeigt sich deutlich, wie sehr das Thema der zeitgenössischen Kunst bei den Chinesen selber angekommen ist. An jeder Ecke wird diskutiert, gestaunt, gelacht, werden die obligatorischen Souvenirfotos geschossen. Nur dass hier zumeist auf die leicht albern wirkenden „Victory“-Posen verzichtet wird, statt dessen häufig die Skulpturen im Außenbereich in die Szene integriert werden. Und auch die Chinesen selber nutzen den Ausflug hierher mitunter als Vorwand, um sich selber in Szene zu setzen, mit beispielsweise extravaganten Pandabären-Kappen ein wenig aus der Masse herauszustechen.
In der Edelgalerie Fourchou, in der auch der regierungskritische Konzeptkünstler und Bildhauer Ai Weiwei mit diversen Skulpturen und Installationen vertreten ist, sind die Exponate intellektuell mindestens genauso anspruchsvoll wie andernorts in New York, Paris oder London auch. Optisch nüchtern, emotional jedoch schwerwiegend ist die Namensliste der jugendlichen Opfer des Erdbebens von Sichuan 2008 in China, die Ai Weiwei als Schwarz-Weiß-Druck auf Aluminiumrahmen zwischen 2008 und 2011 erstellt hat. Viele der jungen Menschen starben, weil Schulen und Universitäten – öffentliche Gebäude – aus zum Teil minderwertigem Material gebaut waren und zusammenfielen wie Kartenhäuser. Ai Weiwei begann, nach den Verantwortlichen zu fragen. Zweimal wurde er bei seinen Recherchen zusammengeschlagen, am Ende wird er 2011 unter fadenscheinigen Gründen verhaftet und knapp drei Monate später unter schweren Auflagen und gegen Kaution freigelassen.
Im angrenzenden Raum hängt eine riesige Installation von Liu Wei aus Ochsenhaut von der Decke, die die tibetische Hauptstadt Lhasa und den Potala Palast – permanenter Stein politischer Anstöße in China – darstellt. Sie trägt den doppeldeutigen Namen „Don‘t touch“ (Nicht berühren, Anm. d. Red.).
Nach zwei intensiven Stunden angefüllt mit vielen visuellen Eindrücken und Hintergrundinformationen zu Exponaten und Künstlern im Beijing Kunstbezirk 798, stoße ich allmählich an meine geistige Aufnahmekapazität für moderne Kunst. Leider nähert sich mein Beijing-Aufenthalt seinem Ende zu. Gerne wäre ich noch einmal einen Tag hergekommen, um in Ruhe mit dem nötigen Wissen ausgestattet die lebendige und vielfältige Kunst hier auf mich wirken zu lassen, die heitere und gelassene Atmosphäre in einem der zahlreichen Cafés zu genießen und die Speicherkarte der Kamera bis zum Anschlag mit der situativen Komik der Besucher zu füllen, die so viele dankbare Motive abgeben. Vielleicht ergibt sich daraus dann ja eine Fotoausstellung mit dem Titel „West meets East meets Art“. Falls ja, Sie sind zur Vernissage eingeladen!
Weitere Infos
Beijing Kunstbezirk 798
Das Gelände der alten Elektronikfabrik 798 liegt im Kunstbezirk Dashanzi (Stadtteil Chaoyang) im Nordosten von Beijing.
2-4 Juxian Qiao Lu
Da Shan Zi, Chaoyang, Beijing
www.798space.com
ChART Contemporary
Megan + KC Vienna Connolly
Bringing together art & people
Beijing / New York / Hong Kong
Tel.: +86-1-3810929464
info [at] chartcontemporary [dot] com
www.chartcontemporary.com
Faurschou Beijing
798 Art District
No.2 Jiuxianqiao Road,
Chaoyang District, Beijing, 100015
Tel.: +86-10-5978 9316
beijing [at] faurschou [dot] com
www.faurschou.com
Buchtipp:
Ai Weiwei: Macht Euch keine Illusionen über mich: Der verbotene Blog
Nicht erst seit seiner Verhaftung wurde Ai Weiwei zur Ikone des Kampfes für Meinungsfreiheit und Menschenwürde. Fast vier Jahre lang dokumentierte er im Internet, was er in seiner Heimat erlebte und was er sich dazu dachte, bis sein Blog von der Regierung aus dem Internet entfernt wurde.
Bücher von Ai WeiWei China
Autor: Judith Hoppe